neues alter

Forschungsprojekt Citizen Science

Wir leben länger und bleiben länger jung. Seit 1975 hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung um zehn Jahre verlängert; die «mittlere» Phase dehnt sich aus. Eine Neustrukturierung der Lebensentwürfe mit den Elementen Ausbildung/ Rekreation/ Erwerb/ Sorgearbeit drängt sich im demografischen Wandel auf; das überlieferte Dreitaktmodell Ausbildung – Arbeit – Ruhestand ist reif fürs Archiv.

2020 hat eine Gruppe von rund zwei Dutzend Personen um Elisabeth Michel-Alder, unterstützt vom Sozialversicherungsprofessor Thomas Gächter, ein Citizen Science- Forschungsprojekt gestartet mit dem Ziel herauszufinden, unter welchen Bedingungen heute über 7 Jahrzehnte dauernde, engagierte Lebenswege zustande kommen. (Denn rund ein Viertel der Bevölkerung, mehr Männer als Frauen, leistet aktuell gemäss AHV-Statistik auch ü64/65 Erwerbsarbeit, Tendenz steigend.) Die qualitative Studie hat 50 solcher höchst diverser Verläufe aus allen Gegenden und sozialen Schichten der Deutschschweiz dokumentiert und analysiert. Die Auswertung ist imgange, die Publikation der Erkenntnisse erfolgt als work in progress im Internet unter www.neuesalter.ch.

Ein paar Erkenntnisse:

Zentrale Voraussetzung für lange, ausserhäusliche, engagierte Tätigkeit ist ein organisatorischer Rahmen. Künstler:innen, Selbständigerwerbende und Unternehmensinhaber:innen zum Beispiel schickt keine Instanz in den Ruhestand. Angestellte müssen etwas unternehmen, um den Dreitakt-Standard zu entrinnen, denn ein Grossteil der Arbeitsverträge endet noch immer automatisch mit dem Erreichen des 64./65. Geburtstags. Sie brauchen individuelle Initiative oder Zufälle, um beizeiten ein neues Pferdchen für spätere unabhängige Ritte zu satteln.  

Fast alle Auskunftgebenden im Projekt weisen Umbrüche und Neuanfänge im beruflichen und/oder privaten Bereich in der «Mitte» ihres Weges auf. Es scheint, dass der Umstieg in einen zweiten oder weiteren (beruflichen) Zyklus mit veränderten Zielen und Bewährungsproben frische Energien freisetzt, näher zu den spezifisch persönlichen Talenten führt, das Selbstbewusstsein stärkt und Handlungsmöglichkeiten öffnet, die nicht so schnell ausgeschöpft sind.

Die intuitive Annahme, dass vor allem Fitte und Gesunde beruflich länger bei der Stange bleiben, wird von den Forschungsergebnissen radikal in Frage gestellt. Die Auskunftgebenden sind von  vielen chronischen und schweren akuten Krankheiten geplagt. Doch ihr gesellschaftliches Engagement ist eine grosse Hilfe beim Relativieren des Stellenwerts gesundheitlicher Einschränkungen und Leiden. Frau H. sagt zum Beispiel: «Hätte ich meine Arbeit nicht, wäre ich viel kränker.»

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